Mutige Mädchen im Münzen-Wunderland

Gabriele Sturm

Seymour Joseph Guy: Das Märchen vom Goldlöckchen, ca. 1870. Das Gemälde zeigt die Kinder des Künstlers.

Wer erinnert sich nicht an Vorlesestunden, in denen Eltern oder Großeltern von außerordentlichen Kindern, fantastischen Tieren oder anderen seltsamen Wesen erzählten. Und an das sehnlichst herbeigewünschte Vergnügen, dann endlich selbst die wunderbaren Geschichten der Kinderbücher erkunden zu können, die in teils fremde, teils vertraute Welten entführten und deren Hauptfiguren als positive wie als negative Identifikationen dienen konnten. Neben ihrem Buchleben haben es einige dieser Figuren auf die Leinwand der Kinos bzw. auf den Bildschirm von Fernseher oder Computer geschafft – manche entsprechen den beim Lesen entstandenen eigenen Vorstellungen, andere nicht.

Auch die moderne Numismatik bzw. Münzprägungen der jüngst vergangenen Jahre haben einige der Heldinnen und Helden aus Kinder- und Jugendbüchern der vergangenen beiden Jahrhunderte entdeckt. Hier möchte ich schauen, welche erschriebenen Mädchen im Münzbild in welcher Situation auftreten. Dabei beschränke ich mich auf mutige Mädchen – also auf solche, die sich beherzt und neugierig mit Selbstvertrauen und Zuversicht auch unsicheren Situationen stellen und diese zu guter Letzt erfolgreich bewältigen.

Zum Hintergrund: Erst mit der Kulturepoche der Aufklärung entstand im 17. Jahrhundert ein Bewusstsein dafür, dass die Kindheit eine eigene Zeitspanne im Leben jedes Menschen ist; im 18. Jahrhundert wurde diese Vorstellung um eine Phase der Adoleszenz erweitert (Ariès 1975). Mit der Verbreitung dieser neuen Einsicht entstanden dann vor allem im 19. Jahrhundert mit einem selbstbewusster werdenden Bürgertum entsprechende Bildungseinrichtungen und Lehrtexte.

Infolge der Popularität von Märchensammlungen während der Epoche der Romantik entstanden zeitgleich moderne Märchen, die zur Abgrenzung gegenüber den Volksmärchen als Kunstmärchen bezeichnet werden. Zu den beliebtesten Märchendichtern jener Zeit zählten Ludwig Tieck (1773 – 1853), E.T.A. Hoffmann (1776 – 1822), Clemens Brentano (1778 – 1842), Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799 – 1837), Wilhelm Hauff (1802 – 1827), Hans Christian Andersen (1805 – 1875) und Oscar Wilde (1854 – 1900). Deutlicher als die orts- und zeittypischen Verschriftlichungen der Volksmärchen weisen die Kunstmärchen auf die gesellschaftlichen Hierarchien ihrer Zeit hin, auf ökonomische, soziale und kulturelle Armut breiter Teile der Bevölkerung (vor allem der Kinder) oder auf die sich abzeichnenden negativen Folgen der einsetzenden Industrialisierung bei gleichzeitiger Freisetzung der kleinbäuerlichen, großteilig leibeigenen Landbevölkerung. Da mir die im Münzbild dargestellten weiblichen Protagonistinnen der Kunstmärchen von Hans-Christian Andersen für junge Leserinnen mehrheitlich wenig Mut machend erscheinen, werden diese hier nicht vorgestellt. Auch fehlt die junge Amerikanerin Dorothy Gale aus der Erzählung Der Zauberer von Oz, die geschrieben von L. Frank Baum im Jahr 1900 erschien, weil ich diesbezügliche Münzen bzw. Münzfotos (Cook Islands 2017 oder Tuvalu 2019) nicht habe.

Illustration zu E.T.A. Hoffmanns Nussknacker und Mäusekönig von Peter Carl Geißler.

Anders sieht dies für die Figur der Marie aus dem Kunstmärchen Nussknacker und Mausekönig (1816) von E.T.A. Hoffmann (1776 – 1822) aus: In der Weihnachtsnacht erkennt Marie aufgrund von Erzählungen im lädierten Nussknacker ihres Bruders den verschwundenen Neffen ihres Patenonkels, der verhext wurde. Da sie voller Zuversicht dem hässlichen und verletzten Nussknacker ins Puppenreich folgt und im Kampf gegen den Mausekönig beisteht, kann sie ihn erlösen, der Neffe erhält seine vorherige Menschengestalt zurück und Marie gewinnt ihn als Lebensgefährten. Im 1892 komponierten Ballett von Peter Tschaikowski heißt die Protagonistin Clara, so wie die Tochter von Hoffmanns Freund J.E. Hitzig, die mit der Heldin im Märchen portraitiert wurde. Aufgrund der begrenzten Formensprache eines klassischen Handlungsballetts wird in den darauf bezogenen Münzbildern der weiblichen Hauptperson in Bezug auf Körpersprache allerdings viel von ihrer Stärke genommen.

Belarus, 20 Rublòu, 2009. Serie: Märchen der Welt. Foto: Gabriele Sturm.

> Cook Islands, 2 Dollars, 2008. Serie: Animationsfilme der sowjetischen Soyuzmultfilm – Der Nussknacker (1973) nach E.T.A. Hoffmann.

> Belarus, 20 Rublòu, 2009. Serie: Märchen der Welt.

> United Kingdom, 5 Pounds, 2018. Stilisierte Ballettfiguren zur Serie: Christmas Coins.

Die Übergänge vom Kunstmärchen zum Kinderroman sind fließend. Als fantastische Fortsetzungsgeschichten mit pädagogischem Anspruch wurden Pinocchio von Carlo Collodi Lorenzini (1826 – 1890) oder Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen von Selma Lagerlöf (1858 – 1940; Nobelpreis: 1909) geschrieben. Als mutiges Mädchen erlangte ALICE Weltruhm. Ihre Abenteuer wurden in den beiden Büchern Alices Abenteuer im Wunderland (1865) und Alice hinter den Spiegeln (1871) von Lewis Carroll (1832 – 1898) mit Illustrationen von John Tenniel verewigt und gelten bis heute als Paradebeispiel für literarischen Nonsens, der Kinder wie Erwachsene in den Bann zieht.

> Frankreich, 1,5 Euro / 20 Euro, 2003. Serie: Jugendträume der Welt.

> Belarus, 20 Rublòu, 2007. Zwei Versionen zur Serie: Märchen der Welt.

> Salomonen, 2 Dollars, 2014. Anlass: 150. Jahrestag der ersten illustrierten Erzählung von Lewis Caroll.

> Tuvalu, 1 Dollar / 2 Dollars, 2015. Anlass: 150. Jahrestag der ersten illustrierten Erzählung von Lewis Caroll.

> Niue Island, 2 Dollars / 25 Dollars, 2016. Anlass: 65. Jahrestag des Disney-Zeichentrickfilms Alice in Wonderland.

> Niue Island, 2 Dollars, 2018. Vier Szenen aus Disney-Zeichentrickfilm Alice in Wonderland in Box.

> Isle of Man, 50 Pence, 2021. Anlass: 150. Jahrestag der Fortsetzungserzählung von Lewis Caroll.

> Niue Island, 2 Dollars, 2021. Vier Versionen zum 70. Jahrestag des Disney-Zeichentrickfilms Alice in Wonderland.

> United Kingdom, 1 Pound / 2 Pounds / 5 Pounds / 100 Pounds, 2021. Je zwei Versionen zum Anlass: 150. Jahrestag der Fortsetzungserzählung von Lewis Caroll – CoCo GB-2021-0140 bis GB-2021-0147.

Dass die Abenteuer der „ältesten“ hier vorgestellten mutigen Mädchen der Kinder- und Jugendliteratur in Fantasieräumen stattfinden, ist wenig erstaunlich. Die gesellschaftliche Realität der erwachsenen Frauen erlaubte ihnen im 19. Jahrhundert das in der Vorstellung mögliche Handeln nicht. „Aus Eigenschaften wie Tugend, Sittsamkeit und Fleiß wird den Frauen ihre Rolle als Hausfrau und Mutter zugeschrieben. Da es ihnen angeblich an Objektivität und Urteilsvermögen fehlt, wird Frauen der Status als autonome Menschen verweigert. Ein Vormund, zum Beispiel Vater, Bruder oder Ehemann, bestimmt über ihr Leben“ (Warsitz o.J.) – zumindest in den Familien des aufstrebenden Bürgertums. An derartigen gesellschaftlichen Zwängen droht die nächste hier numismatisch präsentierte Heldin zu zerbrechen, das Waisenmädchen HEIDI aus den 1879 und 1881 veröffentlichten Romanen von Johanna Spyri (1827 – 1901): Heidis Lehr- und Wanderjahre und Heidi kann brauchen, was es gelernt hat. Unterstützung findet Heidi in der – von der Autorin stark idealisierten – Natur und durch ihren unangepasst lebenden Großvater. Die Münzbilder zeigen das harte und einsame Leben eines Hirtenmädchens jener Zeit allerdings nur aus einer extrem verniedlichenden Perspektive.

> Fürstentum Liechtenstein, 5 Euro (Probe bzw. Pre-1999-Euro-Medaille), 1998. Heidiland – Anlass: 75 Jahre Zollvertrag des Fürstentums mit der Schweiz.

> São Tomé und Príncipe, 1000 Dobras, 1998. Drei Versionen zur Serie: Heidi.

> Schweiz, 20 Franken / 50 Franken, 2001. Anlass: 100. Todestag der Kinderbuchautorin Johanna Spyri – CoCo CH-2001-0010 und CoCo CH-2001-0009.

Die Forderungen der Alten Frauenbewegung hatten sich auf die Bereiche Bildung, Berufsausübung, eigenes Geld, Wahlrecht und eine veränderte sittliche Grundlage der Gesellschaft konzentriert. Die schockierenden Geschehnisse des Ersten Weltkriegs erschütterten die gesellschaftliche Ordnung in Europa grundlegend und führten in den meisten Staaten zumindest zur Realisierung des Frauenwahlrechts. Andere Regelungen für eine Gleichstellung der Geschlechter konnten in den Folgejahren nur schrittweise bzw. nur sehr reduziert verwirklicht werden. Und obwohl während des Zweiten Weltkriegs ein Überleben ohne die Arbeit der Frauen nicht möglich gewesen wäre, blieben überkommene Geschlechterrollen teils bis heute bestehen.

Die starken Mädchen in den Nachkriegskinder- und -jugendbüchern präsentieren ihre Besonderheit häufig im Gegensatz zu schwachen Mädchen. Ihre Auszeichnung durch die Aussage „Du bist anders als die anderen“ stellt sie jedoch ins Abseits und ändert nichts an einer grundsätzlichen Geschlechterhierarchie (Haaf 2019). Dies trifft insbesondere auf das nächste hier auftretende mutige Mädchen, die neunjährige PIPPI zu, deren Erlebnisse in den Büchern Pippi Langstrumpf (1945), Pippi Langstrumpf geht an Bord (1946) und Pippi in Taka-Tuka-Land (1948) nachzulesen sind. Auf der schwedischen 50-Kronen-Münze zum Tode ihrer Schöpferin Astrid Lindgren (1907 – 2002) tanzt die selbstbewusste Pippi allein durch die Welt.

Schweden, 50 Kronor, 2002. Anlass: Zum Tode von Astrid Lindgren. Foto: Gabriele Sturm.

> Schweden, 50 Kronor, 2002. Anlass: Zum Tode von Astrid Lindgren.

> Niue Island, 5 Dollars, 2015. Anlass: 70. Jahrestag des ersten Pippi-Romans.

Eine der neuen Heldinnen der Jugendliteratur erlebt ihre Abenteuer wieder in einer Fantasiewelt. In den sieben Hogwarts-Romanen von Joanne K. Rowling (*1965), die zwischen 1997 und 2011 im Buchhandel erschienen, besetzt HERMIONE GRANGER neben den Zauberlehrlingen Harry Potter und Ron Weasley die zentrale weibliche Rolle. Die Romane folgen der Entwicklung der jungen Frau und ihrer Freunde vom 11. bis 18. Lebensjahr durch pubertäre Wirrungen und grundlegende Lebensentscheidungen. In der deutschen Übersetzung heißt die junge Hexe Hermine. Dieser Name stammt aus dem Althochdeutschen und bedeutet Kämpferin bzw. Kriegerin, während der englische Name aus dem Altgriechischen stammt, wo er die weibliche Form von Hermes, dem Götterboten ist. Hermines Darstellungen im Münzbild beruhen mehrheitlich auf Szenen der Buchverfilmungen, so dass sie die jugendliche Schauspielerin in verschiedenem Alter und stets in aufmerksamer und entschlossener Pose zeigen. Letzteres trifft sogar für die stark reduzierte und verniedlichende Form der neuartigen Chibi-Coin zu.

> Fiji, 1 Dollar, 2020.

> Niue Island, 2 Dollars, 2020. Nummer 2 der Harry-Potter-Serie der NZMint in Form von Chibi Coins.

> Samoa, ½ Dollar, 2020.

> Frankreich, 10 Euro / 50 Euro / 500 Euro, 2021. The 3 Wizards – CoCo FR-2021-0040, FR-2021-0097, FR-2021-0024 und FR-2021-0041.

> Niue Island, 2 Dollars / 25 Dollars / 250 Dollars, 2021.

> Samoa, 5 Dollars / 50 Dollars, 2021.

Die hier vorgestellten Mädchenfiguren aus zwei Jahrhunderten Kinder- und Jugendliteratur waren zu ihrer Zeit ungewöhnlich und bedienten zugleich den jeweiligen Zeitgeschmack. Die Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und machten ihre Heldinnen weltberühmt. Das haben in der literarischen und filmischen Fiktion wie in der Realität bislang nur wenige Mädchen geschafft. Insofern liefern die bisherigen Münzprägungen eine angemessene Auswahl. Die Bildsprache der modernen Prägungen – abgesehen von denen im Zusammenhang mit Disney-Merchandising herausgegebenen – übernimmt ursprüngliche Illustrationen bzw. folgt weitgehend den Intentionen der Autorinnen und Autoren, von denen bislang nur zwei durch eine auf ihre Person bezogene Münzprägung geehrt wurden. Für eine weitergehende Analyse bedürfen die in den letzten Jahren vermehrt angebotenen Agenturprägungen (z.B. im Namen von Niue) einer separaten Betrachtung, da sie nicht das propagierte Geschlechterbild der Lizenz gebenden Staaten, sondern das der privatwirtschaftlich agierenden Prägestätten und Auftrag gebenden Münzhandelsfirmen repräsentieren.

Auffällig bleibt, dass es den Schöpferinnen und Schöpfern starker Mädchencharaktere offenbar leichter fällt, diese in fantastischen Welten agieren zu lassen. Und die Namen der jungen Heldinnen sind nur in den Erzählungen von Heidi und Pippi titelgebend. Die hier Vorgestellten reizen in den schriftlichen Fassungen ihrer Geschichten das in ihrem jeweiligen historischen Zeitfenster mögliche Handlungsspektrum für Mädchen aus – in heutigen Münzbildern zeigt sich dies weniger. Auch heute noch repräsentieren Geschichten aus dem realen Alltag von Mädchen ein eher enges Verhaltensspektrum und generieren selten Heldinnen. Solange es nicht mehr Erzählungen gelingt, die Klischees typischer Knaben und Mädchen aufzuheben und mit modernen Vorbildern ein breites Publikum zu erreichen, können allerdings auch Münzprägungen in Erinnerung an literarische Personen nichts anderes darstellen.

 

Quellen

Ariès, Philip (1975). Geschichte der Kindheit. München: Hanser. (Original 1960).

Haaf, Meredith (12.01.2019). Geschlechterrollen: Bloß nicht wie ein Mädchen sein – Was Pippi Langstrumpf und Annika mit der Abwertung von Weiblichkeit zu tun haben. Erschienen in der Süddeutschen Zeitung.

Warsitz, Sarah (ohne Jahr; abgerufen im Oktober 2021). Die Situation um 1800: Die “natürliche Hausfrau”. In IG BCE – Interessengemeinschaft Bergbau, Chemie, Energie (Hrsg.), Geschichte der Frauenrechte. Abrufbar unter diesem Link.

Wikipedia, die freie Enzyklopädie (abgerufen im Oktober 2021). Alice hinter den Spiegeln / Alice im Wunderland / Figuren der Harry-Potter-Romane / Geschlechtergeschichte / Geschlechterrollen / Heidi (Roman) / Kinder- und Jugendliteratur / Nussknacker und Mausekönig / Pippi Langstrumpf / Der Zauberer von Oz.