Die moderne Nation hat ihren Ursprung im europäischen Bürgertum, wobei die Intensität der Bindung an die Nation – das Nationalbewusstsein – unabhängig von sozialen Klassen, Schichten oder Milieus ist. Die Idee der Nation ging im 19. Jahrhundert von einer sozialen Totalität aus, die den von der politischen Herrschaft verdrängten Adel genauso einbinden sollte wie die neu entstehende Arbeiterschaft. Diese soziale Totalität verband sich mit den während der Französischen Revolution hervorgehobenen Grundsätzen der Volkssouveränität und der Selbstbestimmung zum Nationalstaatsprinzip. Der Staat ist demnach nicht mehr das Ergebnis von Territorialpolitik, sondern er wird nur durch die in ihm sich organisierende Nation bestimmt. Dieses Prinzip ist zwar nicht Bestandteil des Völkerrechts, wohl aber ein seit dem frühen 19. Jahrhundert wirkungsvolles politisches Postulat, das bis heute als Rechtfertigung für die Gründung neuer Staaten gedient hat.
Das sich in europäischen Staaten etablierende Nationalstaatsdenken traf auf ein sich infolge der Industrialisierung rasant beschleunigendes Wirtschaftswachstum und einen Kolonialismus, der nicht mehr nur die territoriale Ausdehnung des eigenen politischen Einflussbereiches im Blick hatte, sondern insbesondere den Austausch von Gütern und Kulturen. „Laut Schätzungen steigerte sich der Wert des Welthandels zwischen 1790 und 1913 um das Fünfzigfache“ (Nogarède 2014). Dabei ging die industrielle Entwicklung Hand in Hand mit der Kontrolle und Ausbeutung aller erreichbaren Ressourcen – seien es Bodenschätze oder Menschen. Die Leitprinzipien der Französischen Revolution „Liberté, Égalité, Fraternité“ galten letztlich nur für wenige Bürger im entstandenen Nationalstaat, nicht aber für Frauen, Kinder oder Kolonien.
Welche dieser Entwicklungen, welche Kultur, welche Werte treten uns in Form französischer Münzprägungen für die Kolonialgebiete entgegen? Welche Rolle übernimmt dabei insbesondere die französische Nationalallegorie Marianne, deren Bild in Frankreich seit 1897 als Symbol eines starken Volkes und nationaler Einheit zahlreiche Münzen ziert?
Das französische Kolonialreich
In Übersee baute Frankreich zweimal ein Kolonialreich auf, das erste umfasste u. a. große Teile Nordamerikas und ging großenteils im Siebenjährigen Krieg (1756 bis 1763) verloren, das zweite mit Schwerpunkt in Afrika war im 19. und frühen 20. Jahrhundert das zweitgrößte der Welt.
Nach dem Ende der Ersten Republik brachte die Restauration wieder die Bourbonen auf den Thron, die darangingen, das verlorene Kolonialreich wieder aufzubauen. Die Julirevolution von 1830 stürzte Karl X., der durch den Bürgerkönig Louis-Philippe I. ersetzt wurde. Eine erneute bürgerliche Revolution brachte Frankreich 1848 die Zweite Republik.
Zum Präsidenten der Zweiten Republik wurde Louis Napoléon Bonaparte gewählt, der sich bereits 1852 als Napoleon III. zum Kaiser krönen ließ. Unter seiner Herrschaft wurde die Opposition im eigenen Lande gewaltsam unterdrückt, außenpolitisch konnte sich seine Regierung durch den Erwerb von Nizza und Savoyen sowie die Eingliederung von Äquatorialafrika und Indochina ins wachsende Kolonialreich und durch den Bau des Suezkanals auszeichnen.
Marianne für Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent
Nach dem deutsch-französischen Krieg, in dessen Folge Napoleon III. abdanken musste, dehnte sich das französische Kolonialreich während der Dritten Republik (1871 bis 1940) auf eine Fläche von 7,7 Millionen Quadratkilometer aus. Zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich kam es in Afrika zu einem Wettstreit. Höhepunkt der konkurrierenden Eroberungen fremder Länder war die Faschoda-Krise 1898: Das Vereinigte Königreich hatte sich zum Ziel gesetzt, einen Nord-Süd-Gürtel von Kolonien in Afrika zu erobern, vom Kap der Guten Hoffnung bis Kairo (Kap-Kairo-Plan) – Frankreich strebte dagegen einen Ost-West-Gürtel von Dakar bis Dschibuti an. Die Ansprüche beider Staaten kollidierten – Frankreich gab letztlich kampflos nach. Die beiden Staaten steckten im März 1899 im Sudanvertrag ihre Interessengebiete ab (Wikipedia: Frankreich, in Anlehnung an Baumgarts 1974).
Der Algerienkrieg von 1954 bis 1962, an dessen Ende Algerien in die Unabhängigkeit entlassen werden musste, bedeutete ein gutes halbes Jahrhundert später einen tiefen Schnitt in der französischen Kolonialgeschichte mit Auswirkungen bis heute. In den Staaten südlich der Sahara erinnert zudem tagtäglich die zentralafrikanische Währung der CFA-Franc-Zone (Franc de la Coopération Financière en Afrique) an die frühere Kolonialmacht.
In den afrikanischen Gesellschaften waren traditionell bis weit ins 20. Jahrhundert hinein diverse nichtmünzliche Zahlungsmittel üblich – Goldstaub, Perlen, Salzbarren, Schneckenscheibengeld, Manillas (Kupferringbarren), Katangakreuze, Kilindi-Stäbchen etc. Münzgeld im europäischen Sinne war in den Handelszentren zwar in Form beispielsweise des Maria-Theresien-Talers bekannt, wurde landesintern aber kaum gebraucht. Marianne als Repräsentantin des französischen Nationalstaats erscheint deshalb auch erst vergleichsweise spät auf den für die französischen Kolonien ausgegebenen Prägungen. Sie weist dabei alle Insignien der in der Französischen Revolution gründenden Republik auf: die phrygische Mütze der Freiheit, die republikanische Kokarde, den Lorbeerkranz für die ruhmreiche Geschichte des sich selbst bestimmenden Volkes oder den Eichenlaubkranz für die Beständigkeit und Stärke der Republik. Da diese Aussagen jedoch in keiner Hinsicht auf die afrikanischen Gesellschaften der Kolonialzeit zutreffen, in denen dieses Geld benutzt werden sollte, wirken die Münzbilder eher als Verhöhnung der Lebensumstände der Afrikaner*innen, die das unter dem Deckmantel der Modernisierung und Kultivierung aufgezwungene Geld nutzen mussten. Die Übernahme des Bildes der Freiheit bzw. der Marianne auf den Münzen des französischen Kolonialgeldes konterkariert also die Tatsache, dass eine regionale Selbstbestimmung und Volkssouveränität – wie sie im französischen Mutterland seit der Revolution als selbstverständlich proklamiert wurde – in den besetzten Ländern nicht vorgesehen war.
Dieser Artikel wird in einem zweiten Teil fortgesetzt. Gabriele Sturms Artikel über die Marianne auf französischen Münzen finden Sie hier (Teil 1) und hier (Teil 2).
Dieser Text entstammt weitgehend einer 2016 erschienenen vereinsinternen Broschüre: Sturm, Gabriele (2016). Die französische Nationalallegorie Marianne (Der Steckenreiter – eine zeitgemäße Münzbelustigung für vergnügliche Nebenstunden, Folge 108). Bonn: Numismatische Gesellschaft Bonner Münzfreunde e.V. in der Deutschen Numismatischen Gesellschaft. Diese und mehr Publikationen sind auf der Webseite der Bonner Münzfreunde erhältlich.